Heute beginnt eine neue Runde Lesestoff aus der Reihe „Optimistischer Eskapismus“: Teil 1 der fantastischen Kurzgeschichte „Die Klinge aus Salz und Mondschein“ von Alice Auciello. Tag des Meeres war zwar schon gestern, aber es ist nie zu spät, um Geschichten von Meerwesen zu erzählen.
Silla spürte das Meeresrauschen in ihrem ganzen Körper, von den Fingerspitzen bis in die unterste Schuppe ihrer Schwanzflosse. Das war normal, jedes Meerwesen konnte den Gezeitengang und die Kraft des Wassers zu allen Zeiten spüren, doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Was sonst als leise Klänge des Meeres durch ihren Körper floss, war nun zu einem wilden Tosen angeschwollen. Das Geräusch erinnerte sie an Wellen, die mit Wucht auf raue Klippen prallten und dort in tausend Stücke zerbarsten, nur um erneut auf die Felswand zuzusteuern und an ihr zu zerbrechen.
Dieses Bild hatte sie seit vielen Gezeiten verfolgt. Jeden Tag hatte sie an die Ränder der Meere gedacht, an zerklüftete Felsen und einsame Strände, an denen in früheren Gezeiten die stärksten und mutigsten Meerjungfrauen und Meermänner Wache gehalten hatten, um das Reich der Meerwesen vor den Bewohnern des Festlandes zu schützen. Schon so lang träumte sie davon, die Einsame Garde der Meerwesen wiederaufzubauen und das Reich, in dem ihre Familie lebte, zu beschützen.
Dieser Traum hatte sie seit jeher dazu gebracht, früh aufzuwachen, sich ungesehen nach draußen zu schleichen und wieder in ihr Bett zurückzukehren, bevor jemand anderes aus ihrer Familie erwachte. Ihren Traum und alles, was sie tun musste, um ihn wahr werden zu lassen, hütete sie wie einen Schatz
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Silla starrte in die Dunkelheit. Es musste mitten in der Nacht sein, nicht einmal das Licht des Mondes, das manchmal unter die Wasseroberfläche drang und selbst tief unten im Meer noch silbern schimmerte, erhellte die Gewässer. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Seufzend setzte sie sich auf und öffnete die Hände. Auf ihren Handflächen bildeten sich zwei leuchtende Strudel, die langsam nach oben schwebten und die korallenroten Tentakel der Seeanemone in sanftes Licht tauchten.
Silla betrachtete ihren Schlafplatz. Alles um sie herum war rosa und rot, die Tentakel der Anemone weich, wenn sie sich an ihren Körper schmiegten. Schon bevor sie geschlüpft war, hatte ihr Vater diese rosafarbene Pflanze als Gemach für seine älteste Tochter ausgewählt, Silla aber nie gefragt, ob sie rosa überhaupt mochte.
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Vorsichtig, um ihre Eltern oder Geschwister nicht durch die Schwingungen des Wassers aufzuwecken, schwamm Silla hinunter in die Große Höhle, wo sich die Familie normalerweise versammelte. Zu dieser Stunde war der Saal natürlich leer und selbst die Fische und anderen Meeresbewohner, die sich sonst gerne hier tummelten, waren in ihre Unterschlupfe zurückgekehrt.
Wie immer wanderte Sillas Blick zuerst zu Aláti. Schimmernd wie ein Mondstrahl steckte es in seiner Scheide aus gewebtem Tang, als warte es nur darauf, herausgenommen zu werden. Doch das war nicht möglich. Das Schwert war durch eine unsichtbare Schatulle aus reinem Sternenlicht vor Berührungen geschützt. Natürlich war es Silla, ebenso wie ihren Brüdern und Schwestern, streng verboten, sich dem Schwert auch nur zu nähern, doch wie jedes Mal konnte Silla nicht wiederstehen. Vorsichtig ließ sie ihre Hand über die glatte Oberfläche gleiten, die ihre Fingerspitzen von der silbernen Klinge trennte.
Die Schatulle ließ sich nur mit dem Schlüssel öffnen, den ihr Vater Tag und Nacht um den Hals trug für den Tag, an dem Aláti wieder geschwungen werden sollte. Schon seit sie klein war, träumte Silla davon, über die scharfe Schneide zu streichen und zu fühlen, wie das Schwert unter ihren Händen sang. Manchmal glaubte sie zu spüren, wie sich das Heft aus Muscheln an ihre Hand schmiegte, als würde es zu ihr gehören.
In dem Moment, als sie ihre Finger auf das Schlüsselloch legte, dessen Schlüssel Aláti schon bald befreien würde, ließ ein Geräusch sie abrupt innehalten. Schnell zog Silla die Hand weg, denn sie glaubte, eine helle Gestalt auf der größten Empore, bestehend aus einer gelben Montipora, über sich stehen zu sehen. Einen Augenblick später war die Erscheinung verschwunden
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Silla schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war sie so müde, dass sie schon Dinge sah, die nicht da waren. Sie drehte sich um und konnte nur mit Mühe einen Schrei unterdrücken. „Tuin!“, keuchte sie und die gelb gepunktete Muräne stieß ihr freundschaftlich den Kopf gegen die Schulter. „Du hast mich zu Tode erschreckt!“ Sie streichelte Tuins glatte Haut, während sich die Muräne um ihren Oberarm wickelte. „Ich weiß, ich sollte nicht hier sein. Aber ich kann nicht schlafen. Morgen ist der große Tag!“
Tuin stieß ein kehliges Geräusch aus.
Silla grinste. „Du hast recht. Ich sollte ein bisschen schlafen. Aber du brauchst wirklich nicht so herrisch zu sein!“ Mit wenigen Flossenschlägen schwamm Silla zurück in ihr Zimmer.
Tuin löste sich von ihr und verkroch sich in eine kleine Steinhöhle, die Silla extra für ihn gebaut hatte, nachdem ihr älterer Bruder Ajan die Muräne nicht mehr hatte haben wollen und Tuin so wütend von sich geschleudert hatte, dass der Fisch zu Boden gegangen war. Silla lehnte sich zurück und wickelte die Tentakel der Anemone um ihren Leib, um sich zu wärmen. Ihre Schwanzflosse zuckte. Wieder rief sie sich das Tosen der Wellen ins Gedächtnis, doch diesmal beruhigte sie das Geräusch und sie fiel in einen traumlosen Schlummer.
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Fortsetzung folgt.
Über die Autorin: Alice Auciello, geboren im Jahr 1999, wuchs in Konstanz am Bodensee auf, wo sie schon früh begann, kleine Geschichte zu schreiben und diese mit grauenhaften Zeichnungen zu verzieren. Am liebsten schrieb die damalige Leistungsschwimmerin natürlich über Meerjungfrauen und andere Wasserwesen.
Seit 2018 studiert Alice Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften in Thüringen, nebenbei arbeitet sie an ihrem ersten Roman.
Bild: Montipora (CC BY 2.0) , US Fish and Wildlife Service Headquarters, via Wikipedia
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