Heute gibt es wieder etwas Lesestoff aus der Reihe «optimistischer Eskapismus», die Geschichte «Eskapadenbrunnen» von Leonore Dubach, mit einer Heldin, die nicht ganz alltägliche Auswege findet.

Lesestoff - Eskapadenbrunnen

Beim Eintreten in die Galerie duftete es fein nach diversen Gerichten, besonders der Geruch von Schokolade stieg Clara in die Nase, während sie grosse, breite Treppe hinauflief.

Im Saal präsentierten sich Springbrunnen auf langen Tischen, weisse, helle und dunkle Schokolade floss in Kaskaden herunter. Auf riesigen Glastellern lagen mundgerecht geschnittene Obststücke, auf langen Holzstäbchen aufgespiesst, die unter die flüssige Schokolade gehalten wurden.

In Gedanken sah sich Clara mit perfekter Figur unter einer herunterstürzenden Schokoladenmasse, den Mund weit geöffnet. Die Masse bedeckte ihren gesamten Körper. Sie genoss die Süsse, die Wärme und das verführerische Aroma, das ihren Körper streichelte.

Ihr Leben war sonst trostlos, sie hatte keine Arbeit und keine Freunde, musste mit wenig Geld auskommen. Ein Schokoladenhersteller, der immer auf der Suche nach schönen Frauen war, sah dem Treiben mit Vergnügen zu. Clara kam seiner Vorstellung einer Schokoladen-Göttin am nächsten. Ein Chocolatier nahm ihre Masse. An der Messe «Schokoladen Träume» präsentierte der Hersteller seine Göttin in Lebensgrösse, Clara war anwesend. Diese Kreation brachte ihm und ihr viel Bewunderung ein. Die Figur wurde zerstört. Man brachte sie zu Fall. Wie im richtigen Leben war ihr Glück nur von kurzer Dauer. Der Hersteller bot die Bruchstücke dem Kunsthaus zu einem guten Preis für den Springbrunnen an.

* * *

Clara hielt lachend den Spiess in der Hand, die Schokolade lief über ihre Hände und das Kleid.

Auf den Tischen nebenan gab es verschiedene Sorten an Salzgebäck, Oliven, Partybrote, die in Dreiecke geschnittenen waren, belegt mit Schinken, Salami, Lachs und diversen Käsesorten. Sie beobachte, wie diese Köstlichkeiten blitzschnell von flinken Händen gegriffen und in gierige Münder geschoben wurden. Frischkäse und Salamischeiben hinterliessen hässliche Spuren auf den Tischtüchern. Ein Tisch war unterdessen vollgestellt mit zerknüllten Papierservietten, Glas- und Papptellern, leeren Kaffeetassen und Weingläsern.

Sie beobachtete die Gäste, hässlich und gefrässig, die alles Essbare mit beiden Händen ihn ihre Münder stopften, laut schmatzten, sich literweise Champagner in den Schlund gossen, laut lachten, die Finger ableckten, nach immer mehr schrien.

Unter dem Tisch kauerten hungernde Flüchtlinge und Obdachlose, die um Essen baten, doch sie bekamen nur die Krümel, die herunter fielen, leckten Champagner vom Boden auf.

Trotz ihrer Abscheu mischte Clara sich unter die Neureichen, ass und trank mit ihnen. Sie trug teure Kleider und Schuhe, schlürfte Champagner, ass Lachshäppchen. Sie schob ihre Herkunft auf beiseite. Sie genoss diesen Luxus mit den Reichen und Schönen.

Sie lief an den Obdachlosen vorbei, rief laut: «Selber schuld.» Sie spürte kein Mitleid.

* * *

Auf einem der Tische lag dunkles Brot, trockene, kreisrunde Kanten. Clara bleib stehen.

Wer nie sein Brot … oder aber gemeinsam Brot brechen, im Schweisse deines Angesichts sollst du …

Sie hatte von ihren Eltern gelernt, dass man Brot nicht wegwirft. Sie starrte auf die Brotdeckel, die niemanden interessierten, dabei waren sie die Fundamente, die diese essbaren Brottürme zusammenhielten. «Dummes Zeug», sagte sie laut.

Der Deckel vom Partybrot erinnerte Clara an das Klosterleben. Vor ein paar Wochen hatte sie ein Kloster besucht, welches bei ihr einen grossen Eindruck hinterlassen hatte.

Beim Berühren des Brotdeckels fühlte sie die Tonsur eines Schweigemönchs. Sie bewundert die Schweigemönche, die in einem halbdunklen Raum, in dem sich ein Stuhl befindet, ein Tisch, auf dem eine Bibel liegt, und abgetrennt eine enge, harte Schlafkoje. Sie bekommen ihr Essen durch eine Klappe gereicht. Aussenkontakt gibt es nur durch das Fenster im Zimmer. Manche Schweigemönche verlassen niemals ihre Zelle.

Clara träumt sich weit weg von allem, dem Stress, dem Lärm. Als Teenager hatten Klöster sie fasziniert.

Sie sieht sich ins Kloster eintreten. Ihr Alltag besteht aus Beten und Arbeiten und himmlischer Ruhe. Sonst muss sie sich um nichts kümmern. Sie ist von fast allen Aufgaben befreit.

Gott sei Dank.

E N D E

Über die Autorin: Leonore Dubach ist bildende Künstlerin und Autorin und lebt in der Schweiz. Sie hat bereits mehrere Lyrikbände veröffentlicht.

Bild: DKrieger, GNU-Lizenz für freie Dokumentation