Heute gibt es den ersten Lesestoff aus der Reihe “Optimistischer Eskapismus“: Erinnerung an alte Zeiten, ein Rückblick aus dem Jahr 2046 von Ulrike Brandhorst.

Lesestoff - Erinnerung an alte Zeiten

Augen auf, die Sonne scheint. Die Vögel jubilieren. Zeit zum Aufstehen! Heute ist der 20. Mai 2046 – der 25. Jahrestag der Schulgründung. Alles ist vorbereitet: Reden, Aufführungen und natürlich das große Festessen an den langen Tischen auf der riesigen Obstbaumwiese des Schulgartens. Alles glänzt vor Sauberkeit: Der Laden, in dem die Schüler ihre Gartenprodukte verkaufen, die Klassenzimmer und die Internatsräume …

2021. Damals hatte auch der letzte verstanden, dass ein Impfstoff uns nicht retten würde. Dass wir unser Leben, unser Wirtschaften, unser Selbstverständnis und unser Verhalten in und gegenüber der Mitwelt grundsätzlich würden ändern müssen. Zum Glück hatten vorausschauende Menschen das schon lange vor dem erkannt, was heute in den Geschichtsbüchern als „Corona-Krise“ bezeichnet wird. Diese Vorreiter hatten mit Permakultur, bio-veganer Landwirtschaft, Reparatur-Werkstätten und grünen Geldanlagen experimentiert, hatten Theorien zu nachhaltigem, gemeinschaftlichem Wirtschaften, Konsumieren und Leben aufgestellt.

Anfangs hatte man sie noch belächelt. Die breite Öffentlichkeit hatte auf einfache, technische Lösungen gehofft, auf schnellstmögliche Rückkehr zur „Normalität“. Sie waren bereit, Hände zu waschen, Masken zu tragen und eine Zeitlang auf Verwandte, Friseure und Parkbänke zu verzichten, sie waren bereit, jede nötige App auf ihrem Smartphone installieren zu lassen – aber langfristige Veränderungen oder gar eine Abschaffung der Smartphones? Undenkbar.

Und jetzt? Denken diejenigen, die sich noch erinnern können, mit Grauen an die Zeit zurück, als sie in Panik gerieten, wenn es einmal keinen Empfang gab. Als alle immer irgendwie unter Stress standen und gar nicht so richtig wussten, warum. Als wir nicht miteinander kommunizierten, sondern uns nur gegenseitig bestätigten oder beleidigten.

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Heute werden digitale Medien maßvoll als Ort der demokratischen Organisation und des respektvollen Austauschs genutzt. Der Agenda 21-Gedanke wird gelebt: Global denken, lokal handeln. Es gibt keine Massenproduktion und Massentierhaltung mehr, Megaställe, Schlachthöfe und Industriegebiete wurden abgerissen, die Bausubstanz sorgfältig in jeder Hinsicht gereinigt und wenn möglich recyclet. Auch Autobahnen, Parkplätze und Hochhäuser wurden rückgebaut. Durch das Freiwerden der Flächen und eine sinnvolle Wohnraumverteilung können die Menschen nachhaltig wohnen, ohne sich ballen oder stapeln zu müssen.

Dort, wo einst Industriegebiete Landschaft und Seele quälten, stehen heute wunderschöne Gewächshäuser. Bananen, Mangos und Ananas gibt es aus lokalem Anbau. Um die Gewächshäuser gruppieren sich kleine Ateliers lokaler Künstler, Handwerker und Gärtner. Hier kann jeder kaufen, was er braucht: Möbel, Kleider, Geschirr, Lebensmittel …

Der globale Austausch ist dadurch nicht zum Erliegen gekommen – aber er findet nicht mehr anonymisiert statt. Die lokalen Schneiderateliers stehen in direktem Kontakt mit den lokalen Baumwollanbauern und Webern in Indien und der Türkei. In Freundschaft verbunden besuchen sie sich gegenseitig auf der neuen Orient-Trasse – einer der zahlreichen Zug- und Schiffsverbindungen, die es Geschäftsleuten und Reisenden ermöglichen, persönliche Kontakte mit weit entfernten Geschäftspartnern und Freunden zu pflegen – wobei schon der Weg dorthin ein Vergnügen ist: In liebevoll gestalteten Kabinen und Abteilen mit hervorragenden Speiserestaurants kann der Urlaub schon beginnen – oder die Arbeit weiter fortgeführt werden.

Auf diesen Bahntrassen und Schiffswegen gelangen auch exotische Gewürze und Kunsthandwerk aus fernen Ländern nach Europa – und europäische Produkte reisen zurück. Frische Ware wird lokal produziert – oder eben nicht. Keiner hat das Gefühl, das ihm etwas fehlt – es gibt ja alles, was man braucht: Zeit, Gemeinschaft, gesundes Essen und Trinken, Kleidung …

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Das Leben hat sich in jeder Hinsicht verändert. Nachdem die ersten Kleinschulprojekte mit weniger als 100 Schülern erfolgreich waren, setzte sich dieses Modell durch. Weltweit wurde ein Kerncurriculum festgelegt: die Grundrechenarten sowie Lesen und Schreiben in den jeweiligen Muttersprachen und Englisch. Alle anderen Kompetenzen sind den jeweiligen Schulen freigestellt.

Hier in der Schule nehmen Kinder von sechs bis achtzehn Jahren entweder als Internats- oder als Tagesschüler am Unterricht teil. Vormittags haben die ersten bis vierten Klassen Kernkompetenzunterricht – täglich von 9-13 Uhr. Die älteren Schüler verpflichten sich zu Projekten ihrer Wahl: Pflege des Schulgartens, Betrieb des Ladens, in dem die Gartenprodukte der Schule, aber auch Kunsthandwerk und Bücher der Schüler verkauft werden. Andere sind für die Versorgung der Internatsschüler verantwortlich und für das Ausrichten von Veranstaltungen.

Wie andere Schulen heute auch, gehört diese Schule zu den festen Institutionen im Ort bzw. Stadtteil: Hier kaufen viele ihre Lebensmittel, es gibt eine Familienberatungsstelle, politische und kulturelle Veranstaltungen und natürlich Feste für alle aus der Nachbarschaft – so wie heute zum Beispiel, zum 25. Jahrestag der Gründung. Also: Schnell aufstehen und den neuen Tag beginnen!

E N D E

Die Autorin: Ulrike Brandhorst, Jahrgang 1970, geboren im Taubertal, Studium der Sprach- und Kulturwissenschaft in Straßburg, Germersheim und Triest,
freiberufliche Übersetzerin und Autorin, Mutter von zwei Töchtern. Die vegane Christin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Darmstadt.

Bild: Sonnenaufgang Kap Arkona, von Ansgar Koreng / CC BY-SA 3.0 (DE)