Geschichten und Musik

Kategorie: Musik

“Der Pfarrer von Plön”, oder was?

Es wird höchste Zeit, mal wieder was Musikalisches zu verbreiten, und einen passenden Anlass gibt es auch: Les Escargots spielen am kommenden Samstag, 10. März 2018, beim Jubiläumskonzert des MGV Langenbrombach. Gefragt war „mal was anderes“. Wir spielen also mit unseren teils sonderbaren Instrumenten (siehe Titelbild) Tanzmusik aus dem 17. Jahrhundert.

Es handelt sich um vier Stücke aus dem ersten The English Dancing Master (1651), gesammelt und veröffentlicht von John Playford: Parsons Farewell, Scotch Cap, Jenny Pluck Pears und Gathering Peascods. Mindestens für zwei davon sind frühere Belege zugänglich. „Gathering Peascods“ zum Beispiel war schon im Fitzwilliam Virginal Book und in W. Ballet‘s Lute Book enthalten.

„Parsons Farewell“ hat sogar eine weitreichende europäische Karriere hinter sich. Mit hoher Wahrscheinlichkeit beginnt sie unter dem Titel „La Bourree“ bei Michael Praetorius (Terpsichore, 1612). 1626 erscheint das Stück – na gut, eine sehr ähnliche Melodie – in der patriotischen Sammlung Nederlandtsche Gedeck-Clanck von Adrian Valerius, ebenfalls mit der Überschrift „La Boree“, versehen mit einem Text, der diejenigen „in staet en macht“ daran erinnert, dass auch sie nicht nach Belieben schalten und walten können. Dazu gab es eine Tabulatur für Laute.

Deutlich später als bei Playford taucht „Bourée d‘Avignonez“ in der Sammlung Recueil de Plusieurs Vieux Airs von André Danican Philidor auf, der als Musiker und später Musikbibliothekar am Hof Ludwigs XIV. beschäftigt war. Einen Text gibt es hier nicht, dafür einen sechsstimmigen Satz, vermutlich für Rohrblattinstrumente.

Die Playford-Sammlung wurde bis ins 18. Jahrhundert immer wieder aufgelegt, und auch danach kamen Tänze in diesem Stil bei der zahlungskräftigen, städtisch geprägten Zielgruppe – das Vorwort der ersten Ausgabe richtet sich an die „Gentlemen of the Innes of Court“ – noch bestens an. Deshalb werden sie heute gern mit Jane-Austen-Verfilmungen in Verbindung gebracht. Danach scheinen sie aber relativ schnell aus der Mode gekommen zu sein, denn Cecil Sharp wird nachgesagt, er habe mit seiner Sammlung im frühen 20. Jahrhundert die Tradition der Country Dances „wiederbelebt“. Ob sie tatsächlich ausgestorben war, kann ich zur Zeit nicht nachvollziehen. Die Wiederbelebung war jedenfalls nachhaltig.

Einige Jahre später und ein paar hundert Kilometer weiter östlich wurden die Melodien und Tanzbeschreibungen von der deutschen Jugendmusikbewegung aufgegriffen. 1928 erschien die Sammlung Alte Kontratänze, die „Parsons Farewell“ unter dem Titel „Fietepaster (oder: Der Pfarrer von Plön)“ enthält. Mindestens bis End der 1960er Jahre, als das nächste Folk- bzw. Early-Music-Revival in die Gänge kam, wurde sie mehrfach nachgedruckt. Seit 1989 ist Altenglische Country Dances von Roswitha Busch-Hofer und Ferdinand Grüneis auf dem Markt, inzwischen wieder mit den ursprünglichen englischen Titeln und mit Anmerkungen zur mutmaßlichen historischen Aufführungspraxis.

Das Stück ist also weit herumgekommen. Bear McCreary, der es für die Musik zur Piratenserie Black Sails (ab 2014) verwendete, deklariert es in diesem Zusammenhang als „traditional sea shanty“. Einen weiteren Beleg dafür habe ich nicht gefunden, widerlegen lässt sich das angesichts der oben beschriebenen Wanderlust der Melodie allerdings auch kaum.

Mehr zum heutigen Lebensraum der Playford-Tänze findet sich zum Beispiel hier.

Lieder kann man nie genug haben

Die Liedhaber, in der neuesten Fassung auch Liadhaber, sind eine Deutschfolk-Band mit inzwischen zwei CDs voller spannend arrangierter Raritäten.

Es singen und spielen fünf Menschen auf allerlei mehr oder weniger gängigen Instrumenten:Hansjörg Gehring, Kontrabass, betreibt eine Kontrabass-Schule. Nebenbei spielt er auch diverse Dudelsäcke sowie Helikon, die aber auf den Liedhaber-CDs nicht zu hören sind.

Dagmar Held, Gesang, arbeitet für den Bayerischen Landesverein für Heimatpflege, beim Archiv für Volksmusik in Schwaben. Damit hat sie die ideale Ausgangsposition, um solche Schätzchen auszugraben.

Christoph Lambertz, Gesang, Klarinette, Böhmischer Bock, ist studierter Musikethnologe und Mitinitiator des Anti-Stadl-Festivals – noch Fragen?

André Schubert, Harfe, Smallpipe, betreibt die Klangwerkstatt und kommt mit seinen Harfen weit in der Weltgeschichte herum.

Johannes Sift, Geige, Harmonika, Bratsche, ist auch unter dem ansprechenden Namen Quetschendatschi bekannt. Wie man hört, quetscht er nicht nur, sondern geigt auch und unterrichtet an einer beruflichen Schule.

CD Nr. 1, Zugvögel, ist Jahrgang 2011 und damit nach Internet-Maßstäben schon fast prähistorisch. Sie enthält etwas altbekanntes Geflügel – „Kommt ein Vogel, Vogel hergeflogen“, „Wenn ich‘s ein Vogel wär“, „Es saß ein klein Wildvögelein“ – mit ungewohntem Gefieder, das auch erfahrene Birdwatcher interessieren dürfte. Dasselbe gilt auch für die anderen Titel, die von den Musikern zum Teil selbst gesammelt, zum Teil aus älteren Sammlungen ausgegraben wurden. Zu den Liedern und Balladen gesellt sich jeweils eine passende Tanzmelodie aus dem 18. oder 19. Jahrhundert. Quellen und Liedtexte sind im Booklet enthalten, was mich als Theorie-Nerd besonders freut.

Die Neuerscheinung Nachtfahrt zeigt, dass dieses Konzept noch längst nicht ausgelutscht ist. Von „Ich geh in finstrer Nacht“ bis „Gute Nacht, ihr lieben Freunde“ stammen die meisten Lieder aus ehemals von Deutschen besiedelten Gebieten in Südosteuropa. Wieder sind Varianten von bekannten Stücken enthalten, gerade ein bisschen anders, pfiffiger, so dass es sich lohnt, auf den Text zu hören. Aber das gilt sowieso immer, auch wenn der Dialekt nicht unmittelbar verständlich ist. Die Musik ist passend zum Inhalt arrangiert, von romantisch verliebt bis rabiat, von gehobenem Unsinn bis zum letzten Abschied.

Hörproben und Videos sind auf der Website der Band zu finden, ebenso die Termine für einige bevorstehende Live-Auftritte. Wer die Gelegenheit hat, hinzugehen, sollte sie wahrnehmen. Es wird sich mit hoher Wahrscheinlichkeit lohnen.

Menschentürme

Bei meiner letzten größeren Übersetzung von 2017 handelte es sich um einen Kulturreiseführer für Katalonien. Nein, zum Thema Separatismus werde ich jetzt nicht mehr schreiben, als dass die Hauptakteure sich bisher allenfalls mit Rum bekleckert haben. Hier soll es um angenehmere Dinge gehen, nämlich um Musik und Essen, wie es sich gehört, und außerdem ums Türmebauen.

Castells

Fangen wir mit Punkt 3 an. Castells – Menschentürme – bauen ist eine typische Sportart in Katalonien, die seit 2010 als immaterielles Weltkulturerbe anerkannt ist. Mit Rivalitäten zwischen Ortschaften und Vereinen (Colles), Ranglisten und Fernsehübertragungen hat es in der Tat einiges von Mannschaftssport – ganz abgesehen von den körperlichen Voraussetzungen und dem dazugehörigen Training. Auf einem Fundament von auch schon mal meheren Hundert Menschen werden mehrere Stockwerke aus bis zu vier Personen aufgebaut. Daran turnt ein besonders leichter Teilnehmer, meist ein Kind, hinauf und gibt das Zeichen, dass der Aufbau beendet ist. Dann wird ebenso zügig wieder abgebaut.

Dass sich am Fundament mehr oder weniger zufällig anwesende Zuschauer beteiligen (Noyes, 208), war in den Anfangszeiten dieser Tradition im 19. Jahrhundert vielleicht üblich. Aktuelle Videos zeigen allerdings auch die Basis in Vereinsfarben und in koordinierter Aufstellung. Wer es auf Reisen trotzdem ausprobieren möchte, kann bei den Minyons in Terrassa am Training teilnehmen.

Turmbau zu Hangzhou

Abgesehen davon sind in den vergangenen Jahren auch etliche Colles außerhalb Kataloniens entstanden, häufig gegründet von katalanischsprachigen Gemeinschaften vor Ort. In Deutschland gibt es zum Beispiel die Xiquets de l‘Alster in Hamburg im Rahmen des katalanischen Kulturvereins El Pont Blau. Einen anderen Hintergrund haben die Xiquets de Hangzhou in China: Sie wurden 2010 als Betriebssportgruppe eines Textilunternehmens gegründet, in engem Austausch mit einer Truppe aus Valls, sozusagen der Heimat der Castells. (Hier sind sie bei einem Wettbewerb in Tarragona zu sehen.) Inzwischen dient das Türmebauen also nicht mehr nur der Bildung einer lokalen oder regionalen Gemeinschaft, sondern auch der Verbindung in alle Welt – sei es zu den Freunden „zu Hause“ oder zu Gleichgesinnten aus ganz anderen Ecken.

Geschichte …

Aber bei allem Punktezählen und Schutzhelmtragen sind dem Ganzen doch noch die Ursprünge in einer Tanzform anzumerken. In den meisten Quellen wird die Entstehung der Castells auf den „Ball de Valencians“ aus dem späten 18. Jahrhundert zurückgeführt. Dieser enthielt bereits akrobatische Figuren, bei denen die Tänzer einander auf die Schultern steigen. Noyes (207) beschreibt das als „vehicle for male display“. Im Lauf des 19. Jahrhunderts verselbständigten sich diese Figuren, und die ersten Türme bauenden Truppen zogen von einem lokalen Fest zum nächsten, um ihre Kunst zu zeigen und nach Möglichkeit auch Geld dafür zu bekommen.

… und Musik

Aus diesen Anfängen heraus ist es nicht verwunderlich, dass auch heute noch Musik zum Türmebauen gehört. Die typische Begleitband einer Colla Castellera besteht aus beliebig vielen Gralles (Schalmeien) und Timbales (Trommeln). Gespielt werden meist bestimmte Stücke passend zu den einzelnen Abschnitten eines Treffens der Castellers, von der Eröffnung des Festes am Morgen über den Einzug auf dem Platz bis zum gemeinsamen Abschluss beim „vermut“. (Hier gibt es Hörbeispiele.)

Während des Hauptteils der Veranstaltung haben die ziemlich durchsetzungsfähigen Instrumente eine wichtige Aufgabe zu erfüllen: Sie informieren die Zuschauer, vor allem aber auch die Teilnehmer in den unteren Etagen des Turms, wie weit der Aufbau gediehen ist und wann der Abbau beginnt. Das Standard-Stück für diese Gelegenheit, der „Toc de Castells“, ist in entsprechende, gut erkennbare Teile gegliedert.

Selbstverständlich haben die Grallers und ihre Instrumente noch mehr drauf. Darum wird es dann in einem anderen Artikel gehen, ebenso um den Ball de Valencians und weitere Tänze mit ihrer Begleitmusik.

Literatur: Noyes, D. 2001. „Festival and the Shaping of Catalan Community“, in D. Keown, A Companion to Catalan Culture, Woodbridge: Tamesis.

In der vergangenen Woche habe ich jede Menge Wörter übersetzt, vor allem viel zu spielen. Ich hoffe, dass die Leute, bei denen die Sachen auf dem Smartphone landen, viel Spaß haben beim Monster plätten und Schätze sammeln.

Dazwischen habe ich aber auch ungefähr 300 Wörter übersetzt, über die ich mich besonders freue. Nämlich zwei Musikerbiografien.

Zum einen wäre da ein Flamencotänzer, der mit seiner Truppe in Hamburg auftritt, nachdem er in Spanien diverse Preise abgeräumt hat und schon ziemlich weit in der Welt herumgekommen ist. An diesem speziellen Konzert sind noch eine tschechische Sängerin und ein international besetztes Barockensemble aus Österreich beteiligt … Auch der Tourplan hat deutliche Anklänge an die Wege, die Walter Salmen und andere für den “fahrenden Musiker im europäischen Mittelalter” nachzeichnen.

Musiker Nummer zwei kommt aus einer ganz anderen Richtung, nämlich aus Hongkong. Er spielt im November in München beim Festival Sound of Munich Now – weder vorn noch hinten eine Spur von Alter Musik, alles höchst elektronisch. Trotzdem sehe ich das als Ausweitung des bekannten Prinzips mit neuen Mitteln.

Musik hat sich in früheren Jahrhunderten nicht von Entfernungen aufhalten lassen – siehe z.B. Matteo Ricci, ein Jesuiten-Missionar, der im 16./17. Jahrhundert chinesische Lieder mit europäischen Instrumenten kombinierte -, heute sind Barrieren aller Art noch viel leichter zu überwinden. Da kann man auch mal für ein paar Tage Festival von Hongkong nach München kommen.

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