Tourismus-Marketing im Mittelalter

Derzeit laufen hier wieder musikalische Vorbereitungen, in denen neben Titeln wie Brötchentüten-Navigator auch eine Cantiga de Santa Maria ihr Unwesen treibt. Davon gibt es über 400, gespielt wird im neudeutschen Mittelalter nur eine Handvoll, noch seltener werden sie gesungen. Vielleicht kommt es daher, dass sich die eine oder andere Band fragt, um wen es sich bei der im Liedanfang erwähnten „Virgen“ wohl handeln könnte – selbst wenn sie einen der Tophits der Sammlung am Wickel haben (CSM 353). Hier geht es allerdings um ein Stück, das noch nicht zum Schlager geworden ist – Razon an de seeren (CSM 218) .

Heilung im zweiten Anlauf

Die Geschichte mit ihren 12 Strophen erzählt von einem deutschen Kaufmann, der zur Buße für seine Sünden nach Compostela pilgert. Der Heilige Jakobus konnte ihm aber nicht helfen, denn die Sünden des Kaufmanns wogen zu schwer. Also machte sich der Kaufmann mit der Hilfe anderer freundlicher Pilger immer noch krank auf den Rückweg. Unterwegs erblindete er sogar, und die Helfer wagten es nicht mehr, ihn noch weiter mitzunehmen. Bei der Muttergottes von Villasirga unternahm der Mann noch einen Versuch, seine Sünden doch noch loszuwerden, und sie heilte ihn.

Konkurrenzkampf um die Pilger

Derlei Geschichten von Rivalitäten zwischen Pilgerzielen und ihren kamen im Mittelalter häufiger vor. A. R. Bell und R. S. Dale betrachten in ihrem Artikel „The Medieval Pilgrimage Business“ das Pilgerwesen vom wirtschaftlichen Standpunkt. Dabei geht es ihnen nicht nur um das Reisen im engeren Sinn, wie etwa manche Historiker die venezianischen Händler, die Pilger auf ihren Schiffen ins Heilige Land transportierten, als die ersten Organisatoren von Pauschalreisen ansehen. Bell und Dale beschreiben auch die Wallfahrtsorte als eine Art Franchise-Betriebe, die unter der Dachmarke der katholischen Kirche agierten.

Dienstleistungen und Sonderangebote

Dabei ist das Marketing eine Aufgabe für die Manager – meist ein Kloster – vor Ort. Sie sind zwar einerseits gehalten, Pilger aufzunehmen und zu versorgen, insbesondere auch Arme und Kranke, und die unterwegs Verstorbenen zu begraben. Andererseits können sie aber für ihre geistlichen Dienstleistungen – Wunder und Ablässe – reichliche Spenden in Form von Geld, Schmuck oder Wachs (wie in CSM 166  zum Beispiel) erwarten. Für Ablässe gab es an manchen Orten regelrechte Preislisten und Sonderangebote zu bestimmten Festtagen oder in heiligen Jahren.
Wunder dagegen wurden offenbar nicht auf Bestellung gewirkt. Man zeichnete sie aber sorgfältig auf, sodass sie lesekundigen Menschen als eine Art „Werbebroschüre“ für den Ort und seine Heiligen dienen konnte. Für die anderen entstanden eben Lieder, die sich unter den Pilgern ausbreiteten. Nach Ansicht von Bell und Dale (S. 613) war das eine der effektivsten Möglichkeiten für ein Pilgerziel, seine Position im Wettbewerb zu stärken: Die Wunder des/der eigenen Heiligen als mächtiger darzustellen als die der anderen. Wenn man eine Jungfrau Maria in seinen Mauern hat, fällt es mit Sicherheit leichter, auch einen Apostel zu überbieten, als etwa mit der Heiligen Kunera von Rhenen .

Fußnote

zu „Weltenbau und Musik“:
Anfang Juni soll mein Urban-Fantasy-Roman Die Weinfestengel erscheinen. Er ist vor einigen Jahren im NaNoWriMo entstanden und verdankt wesentliche Bestandteile dem hohen Anteil von Marienliedern und anderer religiöser Musik auf meiner Festplatte. Ich habe nämlich beim Plotten mehrfach das MP3-Orakel befragt und an den entscheidenden Stellen Antworten wie A Virgen muy Groriosa, Ave Donna Santissima und ähnliches erhalten. Bis zum 30. November war dann nicht nur eine Jungfrau in die Geschichte eingezogen, sondern auch gleich die Heilige Ursula mit ihren 11.000 Gefährtinnen …

Literatur
  • Bell, Adrian R., und Richard S. Dale, „The Medieval Pilgrimage Business“, in Enterprise & Society, Vol. 12, No. 3, Cambridge University Press, September 2011, S. 601-627; https://www.jstor.org/stable/23701445
  • Ohler, Norbert. Pilgerstab und Jakobsmuschel – Wallfahren in Mittelalter und Neuzeit. Artemis und Winkler, 2000.