Die Frühlingssonne schien blass in einen schmalen Hof zwischen zwei Reihen Garagen und malte einen Lichtfleck auf die schmutziggelbe Hauswand dahinter. Ein gut versteckter Lautsprecher verströmte mystischen Gesang. Auf zwei Brauereibänken und einer Sammlung abgenutzter Stühle saßen ein knappes Dutzend Frauen unterschiedlichen Alters und verschiedenster Herkunft. Manche unterhielten sich gedämpft mit ihrer Sitznachbarin, andere summten leise. Alle warteten.
Eine junge Frau kam eilig die Straße entlang, blieb am Eingang zum Hof stehen und legte etwas in das Körbchen, das dort bereitstand. Sie atmete tief auf, zog das lila Schultertuch enger um sich, dann ging sie langsam zum letzten freien Stuhl ganz hinten. Eine Ältere in der Reihe vor ihr sah sie finster an, wandte sich aber schnell wieder zur Garagenwand um.
Schließlich trat ein schlaksiger Junge mit sandblondem Pferdeschwanz aus dem Durchgang zwischen Haus und Garagen. Ohne einen Blick auf die Versammelten drehte er sich zu der Hauswand und dem hellen Fleck um, hob die Hände und begann zu beten.
An der Wand erschien nach und nach eine Figur, eine Frau, die in rote und blaue Gewänder gehüllt war. Ein Seufzen ging durch die Reihen. Die Stimme des Vorbeters wandelte sich in Gesang. Die Zuschauerinnen summten mit oder murmelten Ave Marias.
Niemand bemerkte Benno Schwertfeger, als er den Hof betrat und auf der Höhe der ersten Garage stehen blieb. Hier also steckte Lukas Sperl, während er eigentlich in der Schule sein sollte. Und was tat er da genau? Wenn das, was er redete, Latein sein sollte, reichte die wohlverdiente Fünf nicht mehr aus, man müsste die Notenskala erweitern.
Die Zuschauerinnen starrten wie hypnotisiert auf das Bild an der Wand, die Hände gefaltet oder in einer Pseudo-Mudra im Schoß. Gemeint war wohl die Jungfrau Maria, auch wenn Benno die originale Plastik, die da reproduziert wurde, nicht identifizieren konnte.
Während Lukas seine unverständliche Zeremonie vollführte, überlegte Benno, wo der Projektor stehen musste. Vielleicht sollte er einfach durch den Lichtstrahl gehen und einen Schatten auf das Andachtsbild werfen. Er richtete sich auf und schritt in die Richtung, die er vermutete.
Als er gerade gegenüber der Wand stand, spürte er einen Ruck, als ob er gegen einen Elektrozaun gelaufen wäre. Für einen Augenblick erschien sein Schatten klein und schwarz auf dem roten Gewand der Madonna an der Garagenwand. Aber er verschwand gleich wieder, und Benno wurde vorwärts gestoßen.
Hinter ihm befand sich niemand.
Offenbar hatte keine der Zuschauerinnen diese Aktion bemerkt. Sie betrachteten die Wand noch genauso andächtig wie vorher. Nur Lukas blickte empört in Bennos Richtung.
Dieser blieb nach dem kleinen Zwischenfall ruhig im Hintergrund stehen und besah sich das Publikum eingehender, fast als hätte er eine Klassenarbeit zu beaufsichtigen. In der Tat saßen einige Schülerinnen auf den Bänken, nicht nur aus seiner Klasse. Aber auch eine Lehrerin. Heiderose Fischer-Bramberg. Kunsterziehung, zugegebenermaßen. Trotzdem. So viel Verstand sollte sie haben, sich von solchen Veranstaltungen fernzuhalten.
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