„Platz! Platz da!“, rief Toetje. Die Rooftop Singers formierten sich keilförmig hinter dem olivbraunen Kater und verliehen seiner Forderung mit einem unmelodischen Aufheulen Nachdruck. Sofort wichen die Frischlinge an den Rand der Lichtung zurück
Im trockenen Laub unter einer Buche hockte ein kleines, schwarzes Tier mit weißen Tupfen und spitzer Schnauze und sah verängstigt zu der bunten Gruppe von Katzen auf. Sein Bauch war dick angeschwollen, es atmete schwer.
„Sie bekommt Junge!”, quietschte die weiße Meringa verzückt.
„Ihr spinnt trotzdem“, murrte ihre braune Mitsängerin Petit Four. „Wenn die Bache kommt …“
Caramelo, der von der Gruppe am weitesten in der Welt herumgekommen war, versuchte inzwischen, mit dem kleinen Wesen zu reden.
Toetje, Honey und Schoko umkreisten lauernd die offene Fläche am Fuß der Buche. Die Frischlinge versteckten sich vor den nahenden Katzen im Gebüsch und tauchten an anderen Stellen wieder auf. Langsam wurde die Lage brenzlig, die erwachsenen Wildschweine konnten nicht weit sein.
„Die Dryade!“, rief Meringa. „Die Dryade muss kommen!“
Im Unterholz knackte und prasselte es.
„Keine Zeit!“ Petit Four ging ebenfalls in Lauerstellung. „Die Säue sind schon da!“
„Bringt sie raus hier!“, schrie Caramelo.
Meringa ließ sich nicht lange bitten. Sie packte das schwarze Tierchen im Genick und sprang in weiten Sätzen mit ihm davon. Es schrie und wimmerte Unverständliches.
Wo war nur gleich der Baum der Dryade? Eine Eiche musste es sein.
Hinter ihnen fauchten die Kater. Holz krachte und splitterte. Die Wildschweine quiekten schrill. Ihre harten Klauen donnerten auf den Waldboden. Sie jagten Meringa.
Die weiße Katze schoss durch das Geäst der Sträucher. Wo war jetzt endlich diese Eiche? Sie musste die Säue abhängen.
Und nicht an einen Keiler denken.
„Da lang!“ Caramelo tauchte neben ihr auf.
Sie folgte ihm, ohne lange zu fragen. Nichts wie weg hier.
Endlich lugten die ersten knorrigen Wurzeln der Eiche aus dem Boden. Wenn die Dryade nur nicht unterwegs war, um irgendwo anders zu helfen. Seit diese Wildschweinrotte den Wald terrorisierte, gab es ständig Verletzte zu versorgen.
Außer Atem hielten sie am Fuß des Baums an. Meringa setzte das schwarze Tierchen sanft ab. Es wimmerte leise und rollte sich im Laub zusammen. Meringa leckte über sein Fell.
„Soll der Dreck sich hier auch noch vermehren?, haben sie gesagt!“ Caramelo keuchte. „Das ist kein Dreck, das ist ein Quoll!“
Das Tierchen hob leise quiekend den Kopf.
Petit Four jagte auf die Lichtung. „Wo ist die Dryade? Die Säue sind gleich hier! Die halten sich mit Neutralität und so nicht lange auf!“
„Was?!“ Aus dem Geäst der Eiche meldete sich ein Waschbär. „Denen mach ich Beine!“ Er lief auf dem Ast weiter nach außen, bereit, sich auf jedes gewalttätige Wesen zu stürzen, das die Lichtung betrat. Dabei trug er schon eine Augenklappe.
Am Stamm der Eiche zeigte sich ein grünlicher Schimmer. Meringa atmete auf. Die Dryade war zu Hause.
Das Grün wurde intensiver, eine schlanke, menschenähnliche Gestalt hob sich vom Stamm der Eiche ab.
„Ach, ihr seid es“, sagte die Dryade müde. „Wen habt ihr mir diesmal gebracht?“
Meringa sah sich rasch um, aber Caramelo stand mit den anderen auf Posten. „Sie bekommt Junge“, antwortete sie. Das war schließlich das Wichtigste. „Und die Wildschweine sind hinter ihr her.“
„Die schon wieder.“ Die Dryade kauerte sich neben der werdenden Quollmutter nieder und strich ihr über den Bauch. „Ja, um dich kann ich mich kümmern. Das bringen wir schon in Ordnung. Und die Wildschweine …“ Sie schaute Meringa an. „Da werdet ihr mir noch einmal helfen müssen, wenigstens für jetzt, bis Mischka wieder wach ist.“
Meringa duckte sich unwillkürlich. „Der Bär …“
„Gegen diese Schwarzkittel richtet sonst niemand etwas aus. Die Flurschützen kommen nur sehr selten in den Wald.“
Die weiße Katze schaute sich um. Trotz der Gefahr war eine Gesellschaft von entschlossenen Tieren und Vögeln zusammengelaufen, um die Dryade und ihre Patienten zu verteidigen. Da konnte sie ein paar Kräfte abziehen. „Wir wecken ihn“, sagte sie.
Sie rief ihre fünf Mitsänger zusammen. Gemeinsam trabten sie davon zu der Höhle, in der Mischka der Bär bald aus dem Winterschlaf erwachen musste.
„Der wird verdammt mies drauf sein, wenn wir ihn vorzeitig wecken“, meinte Caramelo.
„Genau die richtige Laune für die Wildsäue!“, rief Honey. „Wir müssen ihm nur rechtzeitig aus dem Weg gehen.“
„Das will ich sehen.“ Petit Four bremste ab. „Ich warte hier auf euch.“
„Keine Ausrede!“, widersprach Meringa. „Wir singen alle gemeinsam.“
Vor der Höhle hielten sie inne. Der Bär schnarchte hörbar unruhig.
„Hier können wir nicht bleiben“, sagte Petit Four nervös. „Da rennt er uns gleich über den Haufen.“
Toetje sprang auf einen Granitbrocken neben dem Eingang zur Höhle. „Dann komm eben herauf.“
„Wir müssen uns mal aufnehmen“, brummte Schoko. „Dann können wir bei solchen Aktionen einfach den Sound abspielen und schön auf Abstand bleiben.“
„Schöner Held bist du“, meinte Meringa. „Bitte Ruhe, es geht los.“
Sie gab den Einsatz und die sechs sangen Mischka, der Lenz ist da.
Das Schnarchen aus der Höhle wurde erst lauter, dann ging es in ein tiefes Brummen über. Als sie nach drei Strophen von vorn anfingen, tauchte unter ihnen ein riesiger brauner Kopf auf.
„Hurra!“, schrie Caramelo, statt sein Solo zu singen. „Da kommt der Held des Waldes.“ Er sprang von dem Stein und lief ein Stück in die richtige Richtung. „Hier geht’s lang zu den Wildschweinen.“
„Wildschweine? Jedes Frühjahr dasselbe Theater!“ Murrend machte sich der Bär auf den Weg. „Wohin genau?“
„Zum Baum der Dryade …“
„Was?! Diese Säue werden immer dreister. Denen werd ich’s zeigen.“ Der Bär trabte eilig davon, die Katzen hinter ihm her.
Meringa seufzte erleichtert. „Wer sagt’s denn? Mit einem Lied geht eben alles besser.“
Von Weitem hörten sie empörtes Quieken, das sich schnell entfernte. Als sie unter der Eiche ankamen, versorgte die Dryade bereits die Verletzten, die sich mit ihren Heldentaten im Kampf brüsteten. Von Mischka oder den Wildschweinen war nichts zu sehen.
„Um die können sich jetzt die Flurschützen kümmern“, erklärte der Waschbär, der eine Vorderpfote in der Schlinge trug.
Toetje nickte weise. „Wenn nur wir unsere Ruhe haben …“
„Sind die Babys schon da?“, fragte Meringa. Um die ging es schließlich bei der ganzen Sache.
„Hier!“, rief Caramelo.
Zwischen den Wurzeln der Eiche lag das kleine schwarze Tier mit den weißen Tupfen. Aus einem Beutel an seinem Bauch tauchten immer wieder spitze rosa Näschen auf.
Meringa setzte sich in sicherer Entfernung hin, wickelte sich in ihren Schwanz und schaute zu. Für so einen Anblick jagte sie gern durch den Wald und weckte Bären auf.
In einem alten, ehemals bedeutenden Städtchen, wie eine Krone auf seinem grünen Hügel gelegen, stand neben vielen betagten, mehr oder weniger bedeutenden Häusern aus Fachwerk, den örtlichen Bruchsteinen oder Beton eines, das sonnengelb gestrichen war, mit roten Fensterläden. Nicht nur durch seine Farbe fiel es auf, sondern auch durch den sorgfältig überbauten Garten.
Ein Holzgerüst ragte bis auf die Höhe der Dachtraufe, mit sehr stabilem, engmaschigem Draht bespannt und mit Knöterich bewachsen. Mitten in diesem Garten stand ein niedriger Kirschbaum. Den konnte man von außen bewundern, wenn er blühte. Viel mehr gab es nicht zu sehen.
Wenn der Kirschbaum weder Blüten noch Blätter trug, konnte man darin allerdings ein halbes Dutzend Katzen beobachten, die durch das Geäst kletterten oder einfach in der Sonne lagen. Eine hatte honigfarbenes Fell mit Tigerstreifen, eine war so dunkel wie hochprozentige Schokolade, die nächste rein weiß. Die Kleinste war so braun wie Kakao mit etwas Milch, eine andere erinnerte an Karamell, und die älteste von allen, die sich kaum von ihrem Platz bewegte, hatte die Farbe von Oliven und dunklere Streifen im Gesicht.
Während sie so in ihrem Baum lagen oder durch den Garten streiften, maunzten sie eifrig, als unterhielten sie sich in einer Sprache, die die Menschen nicht verstanden. Gegen Abend, wenn die Sonne nicht mehr in den Garten vordringen konnte, zog die Gruppe in immer derselben Reihenfolge über eine Hühnerleiter auf den Balkon, sang dort in den höchsten Tönen ein Abschiedslied für den Tag und verschwand durch eine Katzenklappe im Haus.
Drinnen in der Katzenwohnung erwartete sie ihre Dosenöffnerin mit frischem Futter und Wasser. Jede Katze strebte zu ihrem angestammten Platz auf einem der Kratzbäume, in einem Karton oder Korb am Boden oder im Wandregal. Während sie es sich schmecken ließen, saß die Dosenöffnerin in einem Sessel und erzählte, was sie an diesem Tag erlebt hatte. Die Katzen zuckten mit den Ohren, was man als Interesse deuten konnte oder auch nicht.
Besagte Dosenöffnerin, eine nicht mehr ganz junge Frau mit wilden, rot gefärbten Locken und einer spitzen Nase, rückte immer wieder während ihrer Erzählung eine Brille mit breitem, bunt geflammtem Kunststoffrand zurecht, wenn sie nicht gerade die Falten eines ihrer weiten, formlosen Kleider in Erdfarben, die ihr bis über die Knie fielen, über ihren Leggins zurechtstrich. Den Katzen war das egal, wenn nur das Futter rechtzeitig in den Napf kam.
Wer fertig gegessen hatte, setzte sich der Dosenöffnerin auf den Schoß und ließ sich kraulen. War dieser Platz belegt, legte sich die nächste Katze quer über die Schultern der Dosenöffnerin. Die beiden folgenden strichen um ihre Beine. Danach war ein Schichtwechsel fällig. Das ging so lange, bis sie jedes Tier ausgiebig gekrault hatte. „Wenn ich euch nicht hätte“, seufzte die Dosenöffnerin dann oft, sagte aber nicht dazu, was dann wäre, sondern begann von vorn: „Wenn ich euch nicht hätte …“
Wenn endlich die letzte Katze von ihrem Schoß gesprungen war, stand sie auf, sagte: „Gute Nacht, ihr Lieben“, löschte das Licht und ging hinaus. So friedlich und unspektakulär verlief das bürgerliche Leben der Rooftop Singers, und kein Mensch ahnte etwas von den Abenteuern, die sie bestanden, wenn kein Menschenauge hinsah.
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Taschenbuch beim Machandel Verlag, E-Book z. B. bei H. L. Schlapp