Der Weg nach Hause
Der Tag nach dem Erntefest war trocken und wie geschaffen zum Reisen. Groreg von Dunberg ritt auf einer Nebenstraße, die nach Nordosten in die Darrenberge führte. Nach anderthalb Tagen im Sattel hatte er sich an sein neues Pferd, eine kräftige Schimmelstute, gewöhnt. Außer ihm gab es niemanden auf der Straße, der seine glänzende neue Rüstung, das Schwert und den sonnengelben Umhang, der ihn als Reichsritter auswies, hätte bewundern können.
Groreg war zum ersten Mal wieder in Stanemark, seit er vor zehn Jahren von zu Hause weggelaufen war. Er hatte sich um die ganze Welt gekämpft, von Alba bis in die östlichen Kolonien, quer durch Belian und zurück übers Meer. Er war sogar bis nach Kark gelangt und hatte dort gegen die angeblich Unbesiegbaren gekämpft. Aber nach all den mühseligen Jahren hatte er etwas vorzuweisen. Er konnte nach Dunberg zurückkehren, der Familie von seinen Taten berichten, seine Mutter von der Plackerei auf ihrem kümmerlichen Bergbauernhof erlösen und sie mit ins Herrenhaus Waldkeran nehmen. Das Reisewetter würde wohl noch eine Weile anhalten, und seine Hochzeit war für Mittwinter geplant. Bald wäre er ein gemachter Mann.
Als Groreg an seine Braut dachte, wurde das abwesende Lächeln auf seinem Gesicht tiefer, und seine dunkelblauen Augen strahlten vor Stolz. Am Abend vor dem Erntefest hatte er im Prinzessinnenhaus des Kaiserpalastes Fräulein Noria von Waldkeran getroffen – ein schlankes, blondes, hellhäutiges Mädchen, etwas jünger als er selbst. Sie hatte den kräftigen kleinen Krieger mit dem dunklen Haar und der sonnengebräunten Haut eines Redenters kaum beachtet. Aber als er am nächsten Tag vom Kaiser höchstselbst zum Ritter geschlagen wurde und die Barden von seinen Taten sangen, änderte sie ihre Haltung völlig. Sie tanzte mit ihm an diesem Abend und an allen folgenden. Schon am letzten Tag des Erntefestes gaben sie ihre Verlobung bekannt. Besser hätte er es nicht treffen können.
Groreg summte Fetzen seines Liedes und träumte von einer glorreichen Zukunft, als eine Bande Wegelagerer in dunklen Mänteln über ihn herfiel. Bevor er sein Schwert ziehen konnte, bäumte sich die Stute auf. Etwas Hartes, Schweres prallte gegen Groregs Brust. Er stürzte.
Kapuzinerkresse
Seli Besil pflegte ihren Garten mit Hingabe. Sie hatte ihn von ihrer Mutter geerbt und diese von ihrer Mutter. Mit dem Garten hatten die Alten auch die Regeln weitergegeben, wie er zu bestellen war. Manche waren selbstverständlich: „Säe Rote Hakenwurz erst nach der Frostigen Emira aus.“ Andere zeigten ihren Sinn bei genauem Hinsehen: „Pflanze immer Küchenestrangium und Essigkleinkraut zusammen (dann bleiben die Schnecken fern).“ Und manche waren einfach mysteriös. Zum Beispiel „Lass den alten Holunder in seiner Ecke zufrieden.“
Bei diesem Satz regten sich manchmal Zweifel in Seli Besil. Warum sollte sie den Holunder in Ruhe lassen? Natürlich brauchte sie die Blüten und Beeren für ihre Tees und Säfte, aber da wäre doch eine jüngere Pflanze besser.
Der alte Strauch sah aus wie ein Ungeheuer aus dem Wald. Seine verwachsenen Äste erschienen Seli Besil mitunter wie Fangarme, die nach ihr greifen wollten. Im Frühsommer dagegen, wenn die Sonne durch die zarten Blütenstände schien, da wirkte er eher wie eine geheimnisvolle Wolke.
Eines Tages fand Seli Besil unter dem Holunder, in dem Bereich, den sie in Ruhe lassen sollte, eine kleine Pflanze, die sie nicht kannte. Sie hatte bläulichgrüne, gelappte Blätter mit fast weißen Adern und einen eher rötlichen Stängel. Mehr war noch nicht zu sehen.
Seli Besil besah sich das Kräutlein von allen Seiten und schüttelte den Kopf. Sie wusste einfach nichts damit anzufangen. Das war eigentlich ein Fall, um in den Hausbüchern nachzuschlagen, ob eine ihrer Ahninnen etwas zu diesem Kraut eingetragen hatte. Aber Seli Besil drückte sich um das Lesen, und erst recht ums Schreiben, wo es nur ging. Ihre Mutter hatte sich zwar redlich mit ihr und der Schwester abgemüht, aber Doni war immer besser gewesen als sie und hatte gern mit ihren Fertigkeiten geprahlt.
Konnte sie nicht jemanden danach fragen? Wen? Normalerweise kamen die Leute zu ihr, um sich Rat in Gartendingen zu holen. Vielleicht die Muhme in Naagrich. Die musste sie ohnehin bald wieder besuchen und ihre Salbenvorräte auffüllen.
Sie zählte an den Fingern ab. Ein Besuchstag in Naagrich dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen.
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