Das Schwert des Wilden LandesSie waren umzingelt. In einen Hinterhalt der Räuber geraten. Wie hätte Hossíek das vorhersehen sollen? Jetzt war es ohnehin zu spät, darüber nachzudenken. Sie mussten sich den Weg freikämpfen.

Tjemmo Repete hatte sein Pferd schon gewendet und stürmte auf die vermummten Gestalten ein, die den Hohlweg versperren wollten. An seiner Seite konnte Hossíek nicht bleiben, zwischen den königstreuen Reitern und der Böschung drängten sich weitere Feinde. Aber das waren keine Räuber, sondern kleine, gräulich-grüne Geschöpfe, die blitzschnell hin und her sprangen. Er hieb blindlings auf sie ein, um sie von Tjemmo Repete fernzuhalten.

Ob Tar Sinon, Guwar Ziemhurst und Jiesche Kojarn hinter ihm etwas taten, konnte er nicht feststellen. Auch von dort regnete es Hiebe und Steine und Gebrüll. Pferde bäumten sich auf und keilten aus.

Etwas knallte gegen Hossíeks Helm. Ihm wurde schwarz vor Augen. Sein Arm gehorchte ihm nicht mehr, und die Welt drehte sich um ihn.

* * *

Hossíek hielt sich mehr schlecht als recht im Sattel. Jeder Schritt seines Pferdes kam als dumpfer Schlag in seinem Kopf an. Sein ganzer Körper schien nur noch aus Schmerz zu bestehen.

Wie lange musste er das noch aushalten? So weit konnte es nicht mehr sein zum sicheren Haus im Bodrawer Moor. Dorthin waren sie doch unterwegs, oder?

Seinen Begleiter nahm Hossíek kaum wahr. War das Tjemmo Repete? Oder einer von den anderen, den Räubern von der Landstraße?

Da stieg mit einem Mal das Pferd dieses Reiters. Hossíeks eigenes Reittier tänzelte – wieder ein paar schmerzhafte Stöße für seinen Kopf.

»Was ist los?«, fragte Hossíek.

»Ich hab uns angemeldet.« Also doch Herr Repete. Was er wohl damit meinte?

Endlich hörte das Stoßen in Hossíeks Kopf auf. Wie aus weiter Ferne hörte er Herrn Repete mit jemandem sprechen. Mit einer Frau. Kannte er die Stimme?

* * *

Als Hossíek wieder zu sich kam, lag er auf einem schmalen Bett. Neben ihm saß eine ältere Frau, die Haare streng in den Nacken gekämmt, am Kragen das Blumenemblem der milden Königin Selbat.

Tante Jatizia, die Dienstälteste im Feldlazarett.

»Bist du wieder wach, Junge?«, fragte sie.

Das war die Stimme, die er im Hof gehört hatte.

Hossíek versuchte, etwas zu sagen. Das war besser, als zu nicken. Aber er brachte keinen Ton heraus.

Die Heilerin hielt ihm einen Becher an die Lippen und wollte ihm etwas einflößen. Grauenhaft bitter.

»Ja, ich weiß, wie das schmeckt. Aber es hilft.« Tante Jatizia setzte den Becher erneut an.

Widerstrebend trank Hossíek ein paar Schlucke. Das genügte. »Dann bin ich in Sicherheit?«

»Ja, du bist in Sicherheit. Herr Repete und Tar Sinon haben die Räuber und das andere Lumpenpack geschickt abgehängt.«

Hossíek dämmerte in einen tiefen, traumlosen Schlaf hinüber.

Erster Traum

In der Dunkelheit der Nacht glomm ein winziger heller Fleck auf. Er wurde größer, nahm Konturen an, formte scharfe Kanten, eine weiße Spitze. Darunter breitete sich Grau aus, bis es in Grün überging. Auf dem schneebedeckten Berggipfel wurde eine Gestalt erkennbar, ein Ritter in glänzender Rüstung. Seine mit Eisen bekleideten Fäuste umfassten den Griff eines Schwertes, als ob er sich darauf stützte. Erwartungsvoll schaute er in die Ferne.

Dort verschwamm die Dunkelheit in einem nebligen Grau, das keine Formen erkennen ließ. Der Krieger drehte sich langsam um und hielt in alle Richtungen Ausschau. Da schälte sich aus dem Nebel eine Gestalt mit langem Hals und riesigen, ledrigen Schwingen. Lautlos näherte sie sich dem Krieger, der immer kleiner wurde, bis er im Boden zu versinken schien. Nur sein Schwert lag noch im Schnee. Dann verschwand auch die Waffe nach und nach. Ein kreuzförmiger Abdruck markierte die Stelle, wo sie gelegen hatte.

Während der graue Nebeldrache seine Runden um den Berg drehte, färbten sich seine Schuppen dunkler, sein Umriss wurde schärfer. Hörner und Krallen zeigten sich klar und bedrohlich. Der Drache wandte seine Aufmerksamkeit einem anderen Berg zu, auf dem eine Stadt im Sonnenlicht funkelte wie ein Edelstein. Das Untier stieß darauf hinab und verdeckte alles Helle mit seinen gewaltigen Schwingen.

Auf dem Berg lag noch immer still der kreuzförmige Abdruck des Schwertes im Schnee.

Lange zog der Drache seine Kreise um beide Berge. Doch dann fiel ein Sonnenstrahl an seinen Schwingen des Drachen vorbei, und das Licht brach sich in den Schneekristallen.

Aber die glitzernden Farben drangen nicht durch den Nebel. Sie konzentrierten sich in einem Ball. Er rollte über den Schnee hinab, und dahinter erhob sich das Gesicht des Kriegers. Seine Hände griffen nach dem Schwert, durch den Schnee, in dem es sich abzeichnete.

Der Nebel verdichtete sich zu scharfen Krallen und Zähnen, packte den umherrollenden Ball und zerriss ihn in tausend Fetzen. Sie wirbelten umher, saugten das Grau auf und landeten als breiter grauer Hut auf dem Schnee. Darunter kam ein Kopf zum Vorschein. Neben dem breit grinsenden Gesicht schob sich eine Hand nach oben, und daran zog sich ein Mensch aus dem Schnee. Einen Augenblick stand er breitbeinig auf der weißen Fläche. Dann sprang er herum und griff nach jedem Sonnenfunken, der es an den Drachenschwingen vorbei schaffte. Den ersten, den er zu fassen bekam, zog er herab zu dem Krieger, dessen Kopf noch im Schnee lag. Gelbes Licht strahlte auf ihn. Sein Körper gewann Form, eine Hand löste sich aus der weißen Decke.

Der Tänzer mit dem grauen Hut reichte dem Krieger die Hand und zog ihn auf die Beine. Das gelbe Licht verfolgte sie, und gemeinsam griffen sie nach dem Abdruck des Schwertes. Langsam hoben sie es auf. In ihren Händen und im Licht wurde es fester. Mit dem funkelnden Schwert drehten sie sich um und zeigten auf den Menschen, der da träumte. Hier ist dein Schwert. Komm und hol es dir.

* * *

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