Weltenbau historisch

Weltenbau im Spätmittelalter

Muss man für die Vergangenheit, also für historische Geschichten im engeren Sinn, wirklich eine eigene Welt bauen? Die spielen doch auf dieser, wohlbekannten und erforschten Welt. Schließlich zeichnen sich Autor*innen historischer Romane gegenüber den Phantastik-Schreiber*innen dadurch aus, dass sie gründlich recherchieren und sich nicht einfach alles ausdenken …

Recherchieren oder fantasieren?

Ich hoffe, im Lauf meiner bisherigen Weltenbau-Artikel hat sich gezeigt, dass Recherche auch für Phantastisches eine Rolle spielt. Jetzt geht es darum, wie viel Phantasie im Historischen Platz hat – nämlich eine Menge.

Je weiter die Epoche zurückliegt, desto lückenhafter sind die Quellen, desto mehr Weltenbau wird nötig. Selbst wenn man nur im engeren Sinn historische Zeiträume in Betracht zieht, also solche, aus denen es schriftliche Aufzeichnungen gibt, wird der Hintergrund zunehmend abenteuerlich.

Am anderen Ende gelten Epochen als historisch, von denen keine Zeitzeugen mehr leben. Wie ich bei einem Gespräch am Rande der Leipziger Buchmesse erfahren habe, zählen dazu inzwischen auch die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Zeitzeugen oder nicht, darüber lassen sich Dokumente aller Art finden, die zu einer Vorstellung von dieser Romanwelt beitragen.

Quellen und der Umgang damit

Im Mittelalter sieht die Sache schon anders aus. „Damals“ wurde ohnehin weniger von dem produziert, was man heute gut als Quelle nutzen könnte. Von diesen geringeren Beständen ist inzwischen eine Menge verloren gegangen. Wie viel und was von diesem Rest wissenschaftlich aufbereitet wurde und allgemein zur Verfügung steht, ist mehr oder weniger Glückssache. Außerdem gehen die einzelnen Fachbereiche offenbar verschieden an die Quellen heran und bewerten sie unterschiedlich. Wer Grabungsfunde betrachtet, kommt zu anderen Ergebnissen als eine Germanistin (und in der Romanistik sieht es mit Sicherheit wieder anders aus …), Urkunden beschreiben andere Sachverhalte als die Dichtung. Und im Laufe der Zeit kommen neue Untersuchungsmethoden ins Spiel und führen zu neuen Erkenntnissen: Nicht alle Skelette, die Waffen als Grabbeigaben erhalten haben, waren einmal Männer.

Roman oder Doktorarbeit?

Wer also gründlich über die Epoche seines Romans recherchiert hat, muss sich früher oder später entscheiden. In einer Seminararbeit zum Thema könnte man alle Quellen zusammentragen, sie bewerten und sich mit Konjunktiven aus der Affäre ziehen. Im Roman kommt das weniger gut an. Vielleicht soll am Ende der ganzen Recherche nur eine beiläufige Bemerkung stehen, keine Abhandlung über mehrere Seiten. Möglicherweise passt auch ein Fund viel besser in die Handlung/zu den Figuren als ein anderer. Das wäre ein überzeugender Grund, der entsprechenden Theorie zu folgen, auch wenn sie wissenschaftlich nicht hundertprozentig anerkannt ist.

Recherchieren und fantasieren

Dann gibt es eben noch die oben erwähnten Lücken, die man beim wissenschaftlichen Arbeiten als solche benennen und dazu feststellen kann, dass weitere Forschung in diese Richtung „wünschenswert“ sei. Im Roman müssen sie gefüllt werden, und das einigermaßen plausibel. Also behaupte ich aufgrund einer Urkunde aus Stadt A, dass zwanzig Jahre später in Stadt B in einer entsprechenden Situation genauso vorgegangen wurde. Das wird mir ein History-Nerd sicherlich um die Ohren hauen. Wenn er dann eine passendere Quelle angeben kann, umso besser, dann habe ich eine heiße Spur für meinen nächsten Roman.
Letzten Endes entscheidet trotz allem die Autorin, welche Art von Welt sie in ihrem Roman haben möchte. Genau wie heute verschiedene Leute das Zeitgeschehen unterschiedlich betrachten, gibt es auch eine Vielzahl von möglichen Bewertungen der Vergangenheit.

Und jetzt gehe ich weiter über das Ablasswesen im 14. Jahrhundert recherchieren …

Bild: gemeinfrei