Es folgt eine neue Portion Lesestoff: „Die Klinge aus Salz und Mondschein“, Teil 3 der fantastischen Kurzgeschichte von Alice Auciello. Hier geht es zu den Teilen 1 und 2.
Silla atmete einmal tief durch und mit einer entschlossenen Bewegung ihrer Schwanzflosse schwamm sie in die Große Höhle. Dort tummelten sich bereits ihre zehn Schwestern und neun ihrer Brüder und warteten ungeduldig auf die Ankunft der Eltern und des ältesten Bruders.
Wie jedes Mal, wenn sich die Familie versammelte, spürte Silla die Distanz zwischen sich und ihren Geschwistern. Wer von ihnen kannte sie wirklich und wen kannte sie?
Trotz ihrer Familienähnlichkeit – helles Haar und dunkelblaue Schwanzflossen – fühlte sie sich von ihrer Familie ozeanweit entfernt. Ihre Geschwister hielten nichts von Schwertkampf und ewiger Wanderschaft. Sie erfanden wundervolle Melodien, die das Reich der Meerwesen stark machten und alle um sie herum verzauberten. Doch das Einzige, was Silla verzauberte, war der Klang von Aláti. Sehnsuchtsvoll blickte sie zu der silbernen Klinge.
Dies waren die letzten Stunden, die Aláti in seinem Gefängnis verharren musste. Heute würde ihr Vater das Schwert herausnehmen und dem nächsten Träger feierlich überreichen. Silla wünschte sich so sehr, dass die Dinge anders lägen, dass sie nicht würde kämpfen müssen, dass sie nicht den Zorn ihres wildesten Bruders auf sich ziehen müsste.
* * *
In diesem Moment betraten Beon und Imaja die Große Höhle und zwischen ihnen ihr ältester Sohn Ajan. Sillas Bruder war in feinste Gewänder gekleidet, in türkisfarbene Stoffe aus dem weichsten Moos, das nur auf großen Felsen in warmen Gewässern gedeihen kann. Seine Schwanzflosse hatte er mit silbernen Schuppen dekoriert, die zu Alátis Klinge passten.
Silla ärgerte sich. Das Schwert war kein Schmuckstück, keine Dekoration. Es war eine Waffe, gemacht zum Kampf, nicht zur Angeberei. Ajan trug sein Haar offen und er hatte Blumenblüten hineingeflochten. In seinem Gesicht konnte Silla erkennen, wie sehr er die bewundernden Blicke seiner Geschwister genoss. Schnell senkte sie den Blick.
Die Eltern begrüßten ihre Kinder und traten in deren Mitte. „Meine lieben Söhne und Töchter“, setzte Sillas Vater an. „Wie ihr alle wisst, ist heute der Tag, an dem Aláti seinem rechtmäßigen Besitzer übergeben wird, um ruhmreiche Taten zu vollbringen.“ Mit einer Hand griff er nach dem kleinen Anhänger um seinen Hals und streifte die Kette ab.
Die kleine, silbrig schimmernde Spitze schob er in das Schlüsselloch und die Hülle des Sternenlichtes fiel von Aláti ab. Die Klinge war frei.
* * *
Fortsetzung folgt.
Über die Autorin: Alice Auciello, geboren im Jahr 1999, wuchs in Konstanz am Bodensee auf, wo sie schon früh begann, kleine Geschichte zu schreiben und diese mit grauenhaften Zeichnungen zu verzieren. Am liebsten schrieb die damalige Leistungsschwimmerin natürlich über Meerjungfrauen und andere Wasserwesen.
Seit 2018 studiert Alice Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften in Thüringen, nebenbei arbeitet sie an ihrem ersten Roman.
Bild: Montipora (CC BY 2.0) , US Fish and Wildlife Service Headquarters, via Wikipedia
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