Es folgt eine neue Portion Lesestoff: „Die Klinge aus Salz und Mondschein“, Teil 2 der fantastischen Kurzgeschichte von Alice Auciello. Zu Teil 1 geht es hier.
Am nächsten Morgen erwachte Silla früh, doch sie konnte deutlich hören, dass ihre Geschwister schon auf waren.
Von Weitem erkannte sie die trällernde Stimme ihrer kleinen Schwester Meja. „Silli, Silli. Heute ist der große Tag! Heute bekommt Ajan sein Schwert!“ Meja rauschte durch die Seeanemone und wirbelte herum, unfähig, auch nur für einen Moment still zu halten.
Silla duckte sich, um nicht von der blaugrünen Schwanzflosse ihrer Schwester getroffen zu werden, die übermütig herumtollte. „Sind alle anderen schon auf?“ fragte sie.
„Alle, alle.“ Meja machte einen Purzelbaum und lachte. „Mutter und Vater sind jetzt bei Ajan, um ihn für die Zeremonie vorzubereiten.“ Sie schlug drei Purzelbäume hintereinander. „Was machst du da?“
Silla flocht ihre Haare zu einem Zopf.
Meerwesen trugen ihr Haar immer offen, damit sie die Strömungen und Gezeiten besser spüren konnten, aber sie wurden dadurch auch langsamer und für das, was sie heute vorhatte, musste Silla schnell sein, schneller als je zuvor.
Natürlich konnte sie das ihrer Schwester nicht erzählen, doch Meja hatte ihre Aufmerksamkeit ohnehin bereits anderen Dingen zugewandt. „Frühstück!“, jauchzte sie und sauste nach unten
* * *
Silla konnte sich nicht vorstellen, dass sie heute irgendetwas hinunterbekommen würde, und schnalzte deshalb leise nach Tuin, der sofort aus seiner Höhle geschossen kam. „Was meinst du, machen wir einen kleinen Ausflug?“
Silla liebte das Meer. Sie liebte es, durch Riffe zu streifen und dabei all die bunten Fische zu sehen, die dort, genau wie die Meerjungfrauen, zu Hause waren. Sie liebte das Gefühl von weichem Seetang auf ihrer Haut und den Duft einer wilden Salzwasserströmung. Manchmal hatte sie ganze Tage und Nächte dort draußen verbracht und davon geträumt wie es wäre, mit Aláti in der Hand die Meere zur durchstreifen, immer auf der Hut vor den Wesen, die versuchten, in die Welt der Meerjungfrauen einzudringen.
Ihre Geschwister konnten Sillas Faszination für ausgiebige Streifzüge nicht verstehen. Sie verbrachten ihre Zeit lieber im Riff der Eltern und sangen.
Anfangs hatte Silla das auch versucht, hatte sich bemüht, gemeinsam mit ihren Geschwistern zu singen. Die meisten Meerwesen waren sehr begabt im Gesang, ihre herrlichen Melodien ließen die Meere erstrahlen und alle Pflanzen erblühen. Mit ihren Liedern heilten die Meerjungfrauen ihre geliebten Ozeane. Doch Silla hatte es einfach nicht geschafft, die Harmonie im Chor ihrer Geschwister aufrechtzuerhalten. Immer war sie aus dem wohlklingenden Rahmen herausgefallen und irgendwann hatte sie aufgegeben. Silla hatte ohnehin nie Sängerin werden wollen. Schon viel zu lange träumte sie von Aláti und endlosen Weiten.
* * *
„Huch!“ Die junge Meerjungfrau zuckte zusammen, als sich auf einmal jemand um ihre Taille schlang, jemand mit einem dunklen Gesicht und vielen Armen. „Wo kommst du denn her?“ fragte Silla und streichelte vorsichtig den kleinen Oktopus, der sich an ihren Körper klammerte.
Es war schon seltsam, dachte sie. Sie lebte in hellen Gewässern mit bunten Fischen, doch sie träumte von wildem Wasser und dunklen Buchten. Und so wie sie sich von der düsteren Seite des Meeres magisch angezogen fühlte, schienen sich auch die dunklen Meereswesen, die eigentlich in der tiefen Schwärze lebten, von ihr angezogen zu fühlen. Behutsam löste sie die Arme des Tintenfisches und setzte ihn auf einen Stein, an dem er sich nun festklammerte.
Das Wasser wurde schon langsam dunkel. Silla musste zurück. Unbemerkt schlängelte sie sich in ihr Gemach und brachte Tuin in seine Felsenhöhle.
Aus der Großen Höhle konnte sie schon die wohlklingenden Stimmen ihrer Schwestern und Brüder hören. Die Zeremonie würde bald beginnen. Sie hatte sich unzählige Gezeiten lang im Geheimen auf diesen Tag vorbereitet, hatte ihn immer wieder in Gedanken durchgespielt, so viele Male, dass es fast irreal wirkte, dass der Moment nun tatsächlich da war. Sie war gekommen, ihre einzige Gelegenheit, und bei Neptun, sie würde sie nutzen!
* * *
Fortsetzung folgt.
Über die Autorin: Alice Auciello, geboren im Jahr 1999, wuchs in Konstanz am Bodensee auf, wo sie schon früh begann, kleine Geschichte zu schreiben und diese mit grauenhaften Zeichnungen zu verzieren. Am liebsten schrieb die damalige Leistungsschwimmerin natürlich über Meerjungfrauen und andere Wasserwesen.
Seit 2018 studiert Alice Angewandte Medien- und Kommunikationswissenschaften in Thüringen, nebenbei arbeitet sie an ihrem ersten Roman.
Bild: Montipora (CC BY 2.0) , US Fish and Wildlife Service Headquarters, via Wikipedia
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