Es folgt eine neue Portion Lesestoff: „Das Gold des Leprechauns“, Teil 5 der phantastischen Kurzgeschichte von Nora Meister. Es geht wieder ins Meer – und zurück an Land, bevor das Himbeereis schmilzt. Hier finden sich die Teile 1, 2, 3 und 4.
Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Die Sache gefiel mir nun doch, ich hätte ewig in den Tiefen der See herumtollen können. Tatsächlich dachte ich keine Sekunde mehr an daheim, an meine kleine Stadt, an mein Eis oder meine Familie. Kurz überkam mich der Gedanke, meinem Mann würde diese Art der Fortbewegung ebenfalls Spaß machen. Aber auch diese Überlegung trieb schnell weiter, ich konzentrierte mich instinktiv auf meine Atmung und mein Tempo. Meine Schnurrhaare – wie nannte man so etwas eigentlich – gaben zuverlässige Informationen zur Strömung, ich erspähte immer neue Umgebungen. Andere Robben umkreisten mich, signalisierten mir Fragen zu meiner Herkunft, die ich im Vorbeischwimmen beantwortete. Sie zeigten sich sehr verwundert, eine Selkie zu treffen, da diese eher an den nördlicheren Küsten zu Hause waren.
Tja, was sollte ich da sagen? Mein Zuhause lag weder in Irland noch in Schottland. Ich kam aus Deutschland, genau aus der Mitte, weit entfernt von magischen Geschöpfen aller Art! Wobei mir dieses Kapitel meiner Existenz immer konfuser vorkam. Mir war eher, als hätte ich schon immer in diesen Gewässern gehaust, umspült von Wellen, umgeben von Wasser und verspielten Lebewesen.
Ich tauchte immer tiefer ins Meer, die Bucht wurde immer breiter, der Grund sank zusehends ab. Eine Robbe pfiff mir zu, ich sei auf dem richtigen Weg, die Nixen und Meermenschen seien nicht mehr weit. Die Strecke könne zurückgelegt werden, bevor mir die Luft ausginge. Das klang doch gar nicht schlecht. Zwar überlegte ich bereits, ob ich die Aufgabe des Leprechauns einfach ignorieren und davon schwimmen könnte, doch mein Gewissen hielt mich auf Kurs. Immerhin hatte er mir das Fell überlassen. Ohne ihn wäre ich nicht in dieser Situation.
Gerade, als mir Zweifel an meinem Sauerstoffvorrat kamen, bemerkte ich, dass ich nicht mehr alleine war: Seltsame Gestalten umschwärmten mich. Sie besaßen Schwänze, dem meinen gar nicht unähnlich, allerdings wesentlich schlanker und seltsam glänzend. Ihre Oberkörper allerdings glichen denen von Menschen. Nein, nicht ganz … ihre Brustkörbe waren breiter als die normaler Menschen. Ihre Haare waren lang, sie reichten bis zu den Hüften, waren jedoch zu langen Zöpfen geflochten, verziert mit Muscheln und allerhand Tand. Sie beäugten mich misstrauisch. Schließlich fasste sich einer der Meermänner ein Herz und sprach mich an: „Selkie! Du bist weit gereist! Was verschlägt dich an diese Küste?“
* * *
Fortsetzung folgt.
Weiteren optimistischen Eskapismus gibt es hier, hier und ab hier.
Die Autorin: Nora Meister, Baujahr 1992, konnte sich in frühen Jahren nicht allzu sehr fürs Lesen begeistern. Eigene Geschichten über schulpflichtige Schnecken verfasste sie allerdings schon im Grundschulalter. Im Laufe der Zeit gewann auch das Lesen für sie an Bedeutung, sodass sie nun Herrin über ein brechend volles Bücherregal ist. Ihr verworrenes Leben mit Studium, Judo, Ehemann und viel zu vielen Tieren entwirrt sie, indem sie noch immer Geschichten schreibt: mittlerweile ohne Schnecken, dafür mit (viel zu viel) Fantasie. Auch wenn sie von fernen Inseln träumt, lebt und schreibt sie doch am liebsten im schönen Odenwald, wo denn auch sonst?
Bild: via Wikipedia, CC BY-SA 3.0
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