Es folgt eine neue Portion Lesestoff: „Das Gold des Leprechauns“, Teil 4 der phantastischen Kurzgeschichte von Nora Meister. Es geht wieder ins Meer – und zurück an Land, bevor das Himbeereis schmilzt. Hier finden sich die Teile 1, 2 und 3.
Nun war ich doch sprachlos. Ich, eine Selkie? Und das hatte er vor zwei Jahren erkannt, als ich mit dem Auto über seine Brücke gefahren war? Vielleicht brauchte der Kerl eine Brille?
Ich seufzte, schnappte mir den Fellhaufen, der vor meinen Füßen lag, und machte mich auf den Weg hinab in Richtung Meer. Wenn ich schonmal hier war, konnte ich mein Glück ja versuchen. Die Theorie der Robbenfrauen klang zwar sehr abenteuerlich, dennoch konnte ich der Sache ja auf den Grund gehen.
Nach einigen Stunden Fußmarsch gelangte ich ans Ufer des Kenmare River, der nur dem Namen nach ein Fluss, in Wahrheit aber eher eine Meeresbucht war. Dort legte ich das Fellknäuel ins seichte Wasser am Ufer, die Wellen umspülten es sanft. Ich zog meine Schuhe aus und stellte mich auf die ledrige Haut. Diese sog sich sofort an meinen Füßen fest.
Unglaublich! Der Leprechaun hatte recht! Schnell schlüpfte ich in das Fell und fiel prompt um. Alles kreiselte um mich herum, die Umgebung schien merkwürdig verzerrt zu sein. Mühsam drehte ich mich um mich selbst und robbte – selbst für eine Robbe – sehr unbeholfen ins tiefere Wasser. Dort stürzte ich mich in die Strömung und ließ mich von ihr treiben. Das machte wirklich Spaß! Pflanzen, Fische, kleinere Lebewesen sausten an mir vorbei, versunkene Boote und allerhand Unrat lagerten am Boden. Hin und wieder stieg ich an die Oberfläche und holte tief Luft, bevor ich mich wieder in die Tiefe sinken ließ. Pfeilschnell schoss ich durchs Wasser, bis ich einen Schatten erspähte. Eine andere Robbe.
Instinktiv begann ich, um sie herum zu schwimmen, versuchte sie, zum Auftauchen zu bewegen. Sie verstand mich, da hatte ich ja mal Glück gehabt.
An der Oberfläche fragte ich sie mit ungewohnten Lauten, wo ich die Meermenschen finden könnte. Sie überlegte nicht lange und hieß mich, der stärksten Strömung nach unten zu folgen, allerdings nicht, ohne vorher tief Luft zu holen.
* * *
Fortsetzung folgt.
Weiteren optimistischen Eskapismus gibt es hier, hier und ab hier.
Die Autorin: Nora Meister, Baujahr 1992, konnte sich in frühen Jahren nicht allzu sehr fürs Lesen begeistern. Eigene Geschichten über schulpflichtige Schnecken verfasste sie allerdings schon im Grundschulalter. Im Laufe der Zeit gewann auch das Lesen für sie an Bedeutung, sodass sie nun Herrin über ein brechend volles Bücherregal ist. Ihr verworrenes Leben mit Studium, Judo, Ehemann und viel zu vielen Tieren entwirrt sie, indem sie noch immer Geschichten schreibt: mittlerweile ohne Schnecken, dafür mit (viel zu viel) Fantasie. Auch wenn sie von fernen Inseln träumt, lebt und schreibt sie doch am liebsten im schönen Odenwald, wo denn auch sonst?
Bild: via Wikipedia, CC BY-SA 3.0
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